Teil 2 unserer neuen Kurzgeschichte

Unheimliches Wissen

“Wenn das so weiter geht, bist Du bald reif“. Sie lässt ihre Tränen laufen. „Das wird nicht leicht“, sagt sie etwas lauter zu sich, reißt sich zusammen und betritt wieder die Station, ohne ihr Gesicht in Ordnung gebracht zu haben.

Ohnmächtiger Protest soll es sein. Aber sie hütet sich, das, was sie empfindet, in Worte, in ausformulierte Anklage zu kleiden, als sie Schwester Theresa begegnet: “Herz- und Kreislaufversagen, es war nichts mehr zu machen“, sagt diese im Vorübergehen nur. „Was für ein Glück“, kann Amalia sich nicht beherrschen sarkastisch festzustellen und begibt sich in das Schwesternzimmer. Sie braucht Hilfe, das spürt sie. Mit Erleichterung absolviert sie jede Visite, die sie nicht mit einer dieser Wahrnehmungen belastet. Soll sie den Onkel ihres verstorbenen Vaters um Rat fragen, einen Heidelberger Pathologie-Professor? Aber sie verwirft diesen Gedanken wieder schnell, Ärzte unter sich denkt sie.

Begegnung mit einem Priester

Als Amalia am späten Nachmittag die Klinik verlässt, fühlt sie sich so schlecht, ist sie so fertig, dass sie die Geborgenheit einer Kirche sucht, die auf ihrem Heimweg liegt. Erst als sie die Beichtstühle wahrnimmt, erkennt die Protestantin, dass sie sich in einer katholischen Kirche befindet. Ihre Not aber ist so groß, dass sie sich – wie auf der Flucht – in einen der Beichtstühle kniet und den Priester, der hier gerade die Beichte abnimmt, direkt um Hilfe angeht: “Ich brauche Hilfe“, sagt Amalia. Die auf sie beruhigend und in gewisser Weise erlösend wirkende Stimme des Geistlichen vernahm Amalia wie in Trance: “Rede meine Tochter“. „Ich bin keine Katholikin, Hochwürden und ich kann auch nicht beichten, aber ich bin in großer Not und brauche ihre Hilfe, Ihren Rat. Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll“. Abgehackt wie im Stakkato hetzt sie ihre Worte auf den Priester, der hinter einem dunkelroten Vorhang saß. „Rede“, kam es wieder hinter diesem Vorhang hervor.

Amalia atmet mehrmals tief durch dann fragt sie: “Kann ich als Kind Gottes, ihm so ähnlich in seiner Göttlichkeit sein, dass auch ich Dinge wahrnehmen, sehen und wissen kann, die eigentlich nicht, oder noch nicht für uns bestimmt, sondern nur ihm, dem Herrn vorbehalten sind? Lange schweigt der Priester, schließlich sagt er: “Fahre fort, erkläre dich näher“.

Warnung vor dem Herzinfarkt

Amalia stockt. Da war es wieder dieses Gefühl, diese Ahnung. Sie fürchtet sich vor dem, was sich gerade in ihr aufbaut in dieser Kirche, in diesem Beichtstuhl. Eine abweisende Kälte spürt sie in diesem Beichtstuhl, in dem sie sich nicht angenommen fühlt. Distanz und Abweisung spürt sie. Aus der Stimme des Priesters war jegliche Wärme gewichen. Und wie Amalia noch ihre Gefühle ordnet, durchdringt ihr Blick den Körper des offenbar sehr fülligen Geistlichen und sie weiß augenblicklich um die Gefahr in er sich befindet. Amalia nimmt sich zusammen und konzentriert sich. Mit letzter Kraft bittet sie den Geistlichen ihr auf ihre Frage eine Antwort zu geben. Wieder schweigt der Priester lange, dann sagt er ohne auf ihre Frage überhaupt einzugehen: “Erwehre Dich des Bösen und bitte den Herrn um Vergebung. Die Versuchung, Gott ähnlich sein zu wollen, ist Teufelswerk. Bete für Dein Seelenheil und gehe in Frieden“. Amalia fühlt sich abgelehnt und ist entsetzlich enttäuscht. Tränen fließen über ihr Gesicht. Schluchzend und mit bebender Stimme spricht sie in den roten Vorhang hinein und es klingt wie ein letzter Versuch: “Aber ich will doch gar nicht Gott ähnlich sein. Was kann ich dafür, wenn ich Dinge sehe, spüre oder ahne, die den Menschen helfen könnten, wenn man mich auch nur anhören würde, Hochwürden“. Der Priester schweigt abweisend. Amalia aber bleibt im Beichtstuhl knien. Sie weiß, dass sie hier nicht heraus darf, bevor sie den geistlichen Herrn nicht vor dem ihm drohenden Herzinfarkt gewarnt habe. Schließlich nimmt sie ihren ganzen Mut zusammen: “Hochwürden“, Amalia flüstert jetzt fast zaghaft, “weisen Sie mich bitte nicht ab, wenn ich Ihnen jetzt rate dringend Ihren Arzt aufzusuchen”. Sie macht eine kurze Pause, dann sagt sie hastig: „Ihr Herz, Sie sind in großer Gefahr“. Dann stürzt sie aus dem Beichtstuhl und verlässt fluchtartig die Kirche.

Der Geistliche, der sich kurze Zeit später aus dem Beichtstuhl quält und suchend in seine Kirche blickt ist von außerordentlicher Körperfülle.

Fortsetzung folgt…

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