Tiere in freier Wildbahn Naturerlebnisse auf einer Birdwatching-Tour

„Psst, dort im Olivenbaum!“ Als Peres Zeigefinger die Richtung andeutet, aus der das melodische Zwitschern dringt, sieht das ungeübte Auge nur noch den Schatten einer schnellen Bewegung. Ein Flattern – und schon ist das Rotkehlchen über alle Berge.

Geduld! Es ist früher Morgen und der Birdwatching-Ausflug hat gerade erst begonnen. Unser Tourleiter Pere Tomás wird an diesem Tag dafür sorgen, dass sich unser Blick schärft für die kleinen Überraschungen in der Natur, ob Flora oder Fauna. Denn statt stundenlang wie festgefroren auf einem Fleck zu hocken und auf Ereignisse im Tierreich zu hoffen, machen wir uns zunächst auf den Weg zu einer Wanderung durch das Mortitx-Tal. Den flüchtigen Eindruck von dem Rotkehlchen macht Pere mithilfe einer App wieder wett. Auf dem Bildschirm können wir das flauschige Fellknäuel mit dem orangeroten Latz in Ruhe betrachten und uns seinen Ruf und seinen Gesang in Erinnerung rufen. Das schult das Auge tatsächlich, denn schon wenige Meter weiter gelingt uns durchs Fernglas nun eine Live-Sichtung. Dort, wo man anfangs nur ein Gewirr aus Blättern und Zweigen wahrnimmt, erscheint plötzlich das Vögelchen, das sich ungestört wähnt, sich putzt und trällert. Als hätte man eine Zauberbrille auf, mit der man verborgene Lebewesen aufspüren kann. Wer diesen Erweckungsmoment erlebt hat, der ist schon angesteckt von der Neugier auf die geheime Welt, die sich größtenteils außerhalb unserer Aufmerksamkeit abspielt.

Ein Hausrotschwanz fängt eine Fliege im Mortitx-Tal.

Geier-Paradies in den Bergen
Pere Tomás ist ein großartiger Begleiter auf einer solchen Entdeckungstour. Seit fünf Jahren führt er kleine Gruppen zu den Hotspots der Vogelbeobachtung auf Mallorca. Das Hauptquartier des Biologen ist dabei Pollença. „Im Umkreis von 25 Kilometern gibt es die besten Plätze für Birdwatching“, erklärt er. Das Feuchtgebiet s’Albufera, Son Real mit seinen Sanddünen sowie Formentor als Ein- und Ausfallstor für die Route der Zugvögel, die auf ihrem Weg zwischen Mitteleuropa und Afrika auf Mallorca Station machen. Und eben auch das Mortitx-Tal, das wir vier Stunden lang durchwandern werden. Unsere Aufmerksamkeit richtet sich dabei immer wieder auf die Bergrücken ringsum, die wir mit dem Fernglas absuchen in der Hoffnung, Mönchsgeier, Gänsegeier oder Adler zu Gesicht zu bekommen. „Die Mönchsgeier bauen ihre Nester auf der Nordseite der Berge“, erklärt Pere. „Ihre Brutzeit reicht bis in den Sommer hinein, da bevorzugen sie schattige Plätze.“ Nachdem die Geier in den 1970er Jahren beinahe von den Balearen verschwunden waren, ist es durch ein umfangreiches Programm zur Bestandserhaltung gelungen, wieder 200 Tiere, davon 35 Brutpaare, anzusiedeln. „Die Bauern sehen die Geier heute nicht mehr als Feinde. Sie lassen tote Weidetiere als Futter für die Vögel liegen.“ Auch Habichtsadler waren in den 1960er Jahren nahezu ausgerottet auf Mallorca, inzwischen ist die Population wieder auf 30 Tiere, darunter 7 Brutpaare, angewachsen.

Wanderweg durch das Mortitx-Tal

Fun Facts aus Flora und Fauna
Während wir den Himmel scannen auf der Suche nach den riesigen Vögeln mit den weit ausladenden Schwingen, lenkt Pere unsere Aufmerksamkeit immer wieder auf die Ebene zurück. Wenn nicht gerade die Winzlinge unter den Vögeln, wie Hausrotschwanz, Buchfinken oder eine Samtkopf-Grasmücke unser erwachtes Forscher-Auge fesseln, hören wir den unerschöpflichen Geschichten von Pere zu. Er verknüpft die Tierwelt dank interessanter Details mit dem Dasein der Pflanzen. Lieblingsspeise der Vögel sind die roten Beeren der Mastix-Pistazie. „So gelangen die Samen des Busches überall hin und machen ihn zur häufigsten Pflanze in diesem Tal.“ Andere Gewächse verweigern sich mit unterschiedlichsten Strategien als Vogelfutter, wehren sich mit Geruch oder Geschmack, sondern milchige Flüssigkeiten ab, die den Vögeln zuwider ist, lassen Dornen wachsen oder haben so starke Fasern, dass sie von dem kleinen Organismus nicht verdaut werden können.

Birdwatcher Pere Tomas mit Spektiv und Fernglas.

370 Vogelarten auf den Balearen
Pere genießt es sichtlich selbst, in wissbegieriger Gesellschaft unterwegs zu sein. „Vögel gucken ist für mich wie Meditation“, verrät er. „Die Stille, die schöne Landschaft und die Konzentration auf Details lassen einen zur Ruhe kommen.“ Als Biologe hat er sich vor allem der Vogelwelt verschrieben. Er begann seine Laufbahn als Naturpädagoge in s’Albufera, zwei Jahre bevor der Park überhaupt eröffnet wurde. Langweilig wird Birdwatching auf den Balearen ganz sicher nicht. Inklusive Zugvögeln haben die Inseln 370 unterschiedliche Arten zu bieten. Zwei davon sind sogar endemisch, das heißt, sie kommen nur hier vor: Die Balearengrasmücke, ein winziges Kerlchen mit einer Größe von gerade mal 13-16 Zentimetern, und der Balearensturmtaucher, der bevorzugt auf menschenleeren Inseln im Meer brütet. Die besten Zeiten, um eine reichhaltige Vogelwelt zu beobachten, sind während der Frühjahrsmigration Ende März/April sowie im Herbst ab Oktober

Flamingos im Naturschutzgebiet S’Albufereta bei Alcúdia.

Rangeleien unter Flamingos
Die grazienhaften Flamingos, denen wir nun am See Sa Barcassa im Landschaftsschutzgebiet s’Albufereta auf die Spur kommen wollen, sind auf Mallorca ständige Gäste. In den Feuchtgebieten hier im Norden kann man sie von Oktober bis Ende April entdecken, in den Salinas im Süden das ganze Jahr über. Flamingos haben eine Fluchtdistanz von 1.000 Metern, also heißt es ruhig und langsam näher kommen. Ideal sind die Hochstände und Verstecke, die rund um die Feuchtwiesen aufgebaut sind. In so einen Hide ziehen wir uns zurück, öffnen die schmalen Sehschlitze und Pere bringt sein Spektiv in Anschlag. Durch das Teleskop lassen sich kleinste Details betrachten, dann schweift der Blick wieder ohne Sehhilfe über die Insellandschaft im Wasser, um neue Ankömmlinge auszumachen. Graureiher stehen reglos am Ufer, ein Kormoranpärchen spreizt die Flügel und genießt die warme Brise. Während wir belustigt die Rangeleien zweier männlicher Flamingos um ein Weibchen beobachten, murmelt Pere vor sich hin. Er zählt die vorhandenen Tiere und notiert die Zahlen in ein kleines Büchlein. So halten es viele Vogelfreunde, die ihre Sichtungen in eine Datenbank einspeisen, deren Werte dann wiederum in den jährlichen Vogelreport der Balearischen Ornithologengesellschaft einfließen.

Vogelbeobachtung in Naturschutzgebiet S’Albufera.

Die lustige Welt der Tiere
Unsere letzte Station an diesem Tag ist der Naturpark s’Albufera. Der Spaziergang entlang der Kanäle erscheint uns nun, als seien wir mitten in den Dokumentarfilm „Die lustige Welt der Tiere“ geraten. Unsere geübten Augen entdecken die faulenzenden Nachtreiher, die wie träge Onkels in Nachthemden im Geäst sitzen. Wir bewundern die eitle Schönheit einer Kolbenente und amüsieren uns über das Purpurhuhn, das durch ein kleines Archipel stakst, als hätte es Sorge, sich die Füße nass zu machen. In den Hides harren wir aus, bis uns die Dämmerung die Sicht nimmt. Um die flüchtige Schönheit der gefiederten Tierwelt wahrzunehmen und genießen zu können, braucht es ein wenig Anleitung. Aber das neue Universum, das sich dabei eröffnet, ist so vielschichtig und zauberhaft, dass sich der Versuch unbedingt lohnt.
Christiane Sternberg, Fotos: Marcos Gittis

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