
Arndt Weitendorff lebt und arbeitet seit 2007 auf Mallorca. In Artà betreibt er eine Praxis für Osteopathie und in Kiel zusammen mit einem Partner eine Schule für Osteopathie. Er ist Fachbuchautor und regelmäßig als Dozent tätig
EL AVISO: Wer heute zu einem Osteopathen geht, erlebt oft kleine, aber entscheidende Wunder. Er wirft zwar anschließend nicht die Krücken weg, aber zum Beispiel die Einlegesohlen. Woran liegt das?
Arndt Weitendorff: Das liegt daran, dass Osteopathie nicht Symptom bezogen behandelt, sondern man denkt an Ursache-Folge-Ketten (UFK), und manchmal liegt die Ursache für Beschwerden nicht dort, wo der Schmerz ist. Beispielsweise kommen 90 Prozent aller Kniebeschwerden ursächlich gesehen nicht vom Knie selbst. Wenn jemand Einlegesohlen bekommen hat wegen der Knieschmerzen, dann kann das richtig sein, aber Kniebeschwerden können auch von Fußwurzel-Blockaden oder von Becken-Fehlstellungen kommen. Diese Zusammenhänge bzw. UFKs erkläre ich dem Patienten, weil er sich manchmal fragt, warum am Knie selber nicht behandelt wird. Und er es doch gewohnt ist, dort therapiert zu werden, wo der Schmerz ist.
EA: Was machen die Orthopäden falsch, wenn sie trotz anderer Ursachen beispielsweise Einlegesohlen verschreiben?
AW: Die Orthopäden machen nichts falsch. Nur man muss, was den Bewegungsapparat angeht, zwei Arten von Schmerzursachen sehen. Der Schmerz kann eine strukturelle oder eine funktionelle Ursache haben – oder auch eine Kombination aus beiden. Die Orthopädie schaut eher auf strukturelle Ursachen für die Beschwerden, obwohl sie funktioneller Art wären. Mich fragen viele Patienten, was unterscheidet mich von einem Orthopäden. Das ist einfach gesagt: Wenn ich mit dem Autoreifen in die Autowerkstatt komme, dann würde sich der Orthopäde das Reifenprofil ansehen, das Profil kann auch ein bisschen abgefahren sein, aber viele Patienten haben nur zu wenig Luft im Reifen, was ein funktionelles Problem ist.
EA: Und ein Beispiel aus der Medizin…
AW: Nehmen Sie die Volkskrankheit Rückenschmerzen. Das müsste nicht sein, denn die Evolution hat den „Rücken“ perfekt gebaut. Und nur weil unsere moderne Zivilisation einen PC kennt und viele Stunden am Tag davor sitzt, heißt das noch lange nicht, dass wir Rückenschmerzen bekommen. Die weit verbreitete Rückenproblematik liegt daran, dass den Patienten mit funktionellen Beschwerden nicht adäquat geholfen wird. Die allgemeinen Empfehlungen wie Rückenmuskeln kräftigen, Schlafmatratze wechseln, Ernährungsumstellung, Sohlenversorgung, Schuhwerk etc. bringen beim Patienten häufig nicht den gewünschten, nachhaltigen Effekt. Das liegt meist daran, dass die Diagnostik und die empfohlene Therapie von einer strukturellen Ursache aus geht.
EA: Noch mal zurück zu den Einlegesohlen – nehmen wir mal an, verschrieben, weil ein Bein kürzer sein soll…
AW: Da fängt die Problematik bereits bei der Diagnostik an. Wenn der Untersucher wissen will, ob der Patient gleichlange Beine hat, dann stellt er sich mit dem Rücken zu ihm, und er schaut sich traditioneller Weise die Höhe der Beckenkämme im Vergleich an. Ist ein Beckenkamm höher, geht man häufig von einer fehlinterpretierten anatomischen Beinlängendifferenz aus und bekommt Einlagen mit Erhöhung. Aus der Biomechanik der menschlichen Gelenke wissen wir, dass der Körper einen angeborenen Beinlängenunterschied von bis zu 2 cm über die Stellung der Ilio-Sakral-Gelenke ausreichend kompensieren kann. Abgesehen davon sollte eine Beinlänge niemals am Beckenkamm abgelesen werden, weil das nicht die Beine sind.
EA: Das heißt, ein wesentlicher Teil der Facharzt-Ausbildung eines Orthopäden fehlt?
AW: Ich meine, ja! Eine funktionelle Orthopädie wäre genauso wichtig wie eine strukturelle, nur leider wird das im Studium nicht ausreichend vermittelt. Das ist ein ganz wichtiger Grund, warum so viele unberechtigte Operationen am Bewegungsapparat durchgeführt werden.
EA: Wie ist der Unterschied vom Osteopath zum Chiropraktiker?
AW: Historisch gab es keine großen Unterschiede. Der erste Osteopath Andrew Taylor Still, war ein lightning fast bonesetter, ein blitzschneller Knochenrenker. Heute würde man „blitzschneller Chiropraktiker“ sagen. Ein Grund warum er seine Lehre 1872 die „Krankheit, die vom Knochen kommt“, also Osteo-pathie, nannte. Die Osteopathie war damals aber allumfassend. Es sollte in Amerika die ca. 2.000 Jahre alte geltende „ViersäfteMedizin“ von Hippokrates und Galen ablösen.
EA: …und heute?
AW: Der Osteopath von Heute untersucht und behandelt nicht symptombezogen. Deswegen stellt es keine Alternativ-Medizin dar, sondern schließt eine dringend gebrauchte Lücke innerhalb der sogenannten Schulmedizin. Er stellt Ursache-Folge-Ketten zu anderen Gelenken (parietal), inneren Organen (viszeral) und dem Schädel-Rückenmark-System (Cranio-Sakrales-System) her.
EA: Der Osteopath wird in Deutschland – anders als in einigen anderen Ländern – von der Schulmedizin kritisch beäugt. Was ist der Hintergrund?
AW: Auf der einen Seite politisch. Wer in den Gesundheitstopf greifen darf, hat kein Interesse, das der Kreis der Zugangsberechtigten größer wird. Zweitens: Ich sehe die Osteopathie gerade in Deutschland sehr kritisch. Sie ist in den letzten 20 Jahren extrem schnell gewachsen, weil die Nachfrage nach der Ausbildung so hoch war. Da es keine anerkannten, staatlichen Qualitätsstandards gibt, sind Schulen entstanden, deren Ausbildung wenig fachkundig ist. In Deutschland hat das „Handauflegen“ innerhalb der Osteopathie zugenommen. Das hat eine fragwürdige Wirkung bei vielen Patienten, und führte eher zur Diskreditierung unseres Berufes.

EA: Ihre Ausbildung war lang: Physiotherapeut, Heilpraktiker, Diplom-Osteopath, zuletzt der akademische Master of Science in Osteopathie, insgesamt gut zehn Jahre. Wie erkennt man einen guten Osteopathen?
AW: Anhand von Diplomen kann man keinen guten Osteopathen erkennen, man kann nur, wie in anderen Berufen auch, nach Hören-Sagen gehen. Dazu sollte man wissen, dass anders als in anderen Ländern, die Osteopathie in Deutschland kein staatlich anerkannter Beruf ist, und deshalb muss man zunächst eine Prüfung zum Heilpraktiker ablegen.
EA: Wie sind bei Ihnen die Patienten-Anteile: Deutsche und Spanier?
AW: Angefangen habe ich mit den Deutschen, dann kamen die Spanier, die einen deutschen Lebenspartner haben. Diese machten Werbung innerhalb der Spanier. Mittlerweile sind es 50:50. Im Winter sogar mehr Spanier als Deutsche, weil die Touristen nicht so zahlreich da sind.
EA: Beispielsweise in der Homöopathie ist kaum etwas wissenschaftlich zu belegen, aber das Behandlungsergebnis ist oft überzeugend. Es gibt den Satz von Hippokrates „Wer heilt, hat recht.“ Wie sehen Sie das?
AW: Die evidenzbasierte Medizin ist ein ganz schwieriges Thema. Es sind in den letzten Jahren sehr viele medizinische Studien auf den Markt gekommen, deren Ergebnisse bei Betrachtung der Statistik recht fragwürdig erscheinen. Medizin wird für mich immer ein großes Stück Empirik bleiben. Es kommt auf die Erfahrung des Behandlers an. Man kann in der Medizin nicht alles wissenschaftlich darstellen, wir befinden uns nicht in der Mathematik oder Physik. Und es ist völlig richtig: Wer heilt, hat recht.
EA: Wie sehen Sie das Gesundheitswesen der Zukunft?
AW: Ich wünsche mir ein Gesundheitswesen in dem die Patienten beim Arzt oder Therapeuten direkt bezahlen müssten, was sie sich anschließend von der Krankenkasse zurückvergüten lassen. Dann wäre das Verständnis auf allen Seiten höher und die Behandlungserfolge wahrscheinlich größer.
Das Gespräch führte Frank Heinrich