Wie geht’s, wie steht’s?

Schuster Jaume Capó ist der einzige orthopädische Schuhmacher auf den Balearen. In seiner Werkstatt in Palma de Mallorca ist jeder Schuh ein Einzelstück.

Schuh-Shopping ist bei Jaume Borrás nicht Lifestyle, sondern Hoffnung auf ein Stückchen Lebensqualität. Der Schuhmacher ist der einzige auf den Balearen, der noch Maßanfertigungen für orthopädisches Schuhwerk vornimmt. Er verhilft seinen Klienten zu ein wenig mehr Normalität im Alltag.

Schuhe anziehen, zuschnüren, auf die Straße treten und loslaufen. So kinderleicht dieser Vorgang erscheint, so schwierig ist er für etliche Mitmenschen, deren Füße nicht in normale Fußbekleidung passen. „Ohne mich könnten sich meine Kunden nicht auf der Straße bewegen“, sagt Jaume Capó Borràs (35). In seiner Werkstatt in Palma entstehen Schuhe, deren Aussehen und Funktion nicht im entferntesten mit dem zu tun haben, was auf Laufstegen oder in weiblichen Schuhsammlungen zu finden ist. Der junge Handwerksmeister ist spezialisiert auf orthopädische Schuhe. Das klingt unsexy, seine besonderen Fähigkeiten sind allerdings ein Segen, wenn man darauf angewiesen ist. Erwischen kann es jeden aus heiterem Himmel, nach einer Operation etwa oder einer Sportverletzung, dass zumindest vorübergehend ein orthopädischer Maßschuh erforderlich wird. Ganz zu schweigen von den vielen pathologischen Fällen, wenn Menschen unwiderruflich hilfreiches Schuhwerk benötigen, um sich halbwegs sicher und schmerzfrei bewegen können. „Ich bin der einzig verbliebene Orthopädieschuhmacher auf den Balearen“, betont Jaume. 

Tradition seit 1908

Familienfoto von Jaumes Großvater in Artà.

Die Schuhmacherei betreibt seine Familie seit 113 Jahren. An den Wänden hängen vergilbte Fotografien aus der Anfangszeit, als die Schuhe noch in Heimarbeit gefertigt wurden. Jaumes Vater schließlich gründete eine Fabrik in Alaró, wo zeitweise bis zu 20 Arbeiterinnen und Arbeiter die Produktion im Fließbandsystem abwickelten. Jeder fertigte einen Teil, zum Schluss wurde ein Schuh draus. Übrig geblieben von der großen Manufaktur ist das Zweimann-Team in der Werkstatt von Jaume. „Während der Krise Ende der 1990er-Jahre mussten viele Fabriken schließen, auch unsere. Mein Vater hat sich daraufhin in zwei Richtungen spezialisiert – auf Reparaturen hochwertiger Schuhe und auf orthopädisches Schuhwerk.“ Jaume selbst wäre nach der Schule nicht unbedingt auf die Idee gekommen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, aber da seine Geschwister andere Pläne hatten, verpflichtete er sich der Familientradition. „Inzwischen macht mir der Beruf auch wirklich Freude. Ich weiß, dass ich meinen Kunden nicht nur etwas Gutes tue, sondern dass ich ihnen ein Stück Lebensqualität zurückgeben kann.“ Das Schuhmacher-Handwerk hat Jaume bei seinem Vater gelernt, die Fachausbildung zum technischen Orthopäden absolvierte er vor acht Jahren berufsbegleitend in einem Fernstudium. Reguläre Schuhe fertigt er nur noch manchmal für Freunde, auch seine eigenen Hochzeitsschuhe hat er selbst gemacht. Ansonsten bleibt er seiner Nische treu und hilft damit Menschen, die auf Konfektionsschuhe angewiesen sind.

Schuhe auf Rezept

Zur Illustration seiner Arbeit zeigt er ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie die Maße einer Kundin genommen werden. „Vorsicht!“, warnt er zuvor, denn der Anblick kranker Füße ist zuweilen nichts für schwache Nerven. Deformationen, Amputationen, Diabetischer Fuß, Fehlstellungen – Gründe für orthopädische Schuhe gibt es viele. Auf der Grundlage der ärztlichen Überweisung und speziell angefertigter Einlagen wird der passende Schuh entworfen. Zwar gibt es im Laden eine Auswahl an Modellen, aber Material und Form bleiben nicht dem Geschmack der Kundschaft überlassen, sondern alles richtet sich nach der Funktion der Schuhe als medizinisches Hilfsmittel. „Als Leder verwenden wir meist Rindsleder, manchmal auch Ziegenleder, aber keine exotischen Materialien. Für die Innenauskleidung kommt eine Membran wie Gore-Tex oder Sympatex zur Anwendung, um zu verhindern, dass die Haut sich wundscheuert.“ Kein Paar gleich hier dem anderen, denn die Krankheitsbilder erfordern die unterschiedliche Anfertigung von rechtem und linkem Schuh. Der Vorgang der Herstellung aber ist traditionell der gleiche wie bei herkömmlichen Schuhen. An den Werkzeugen der Schuhmacher hat sich nicht viel verändert, auch 2021 geht nichts ohne Hammer, Zwickzange und Leisten.

Auffallen ist nicht erwünscht

Anders als im Laden oder in anderen Schuhwerkstätten ist der Kauf hier kein ästhetisches Vergnügen, sondern eine Notwendigkeit. Außergewöhnliches Design oder schrille Farben sind ganz im Gegenteil nicht erwünscht, denn die medizinische Fußbekleidung soll ja gerade nicht die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Daher verarbeitet Jaume überwiegend Leder in dunklen Farben – braun, schwarz, blau. „Je mehr man die Gestaltung verfeinern würde, desto mehr würde die Deformation des Schuhs auffallen.“ Ganz nach Krankheitsbild entscheidet Jaume über Fasson und Maße des Schuhwerks. Hohe Sohlen gleichen Längenunterschiede der Beine aus und entlasten so den Bewegungsapparat. Knöchelhohe Modelle mit starren seitlichen Befestigungen dienen beispielsweise als Schutz, um schwache Bänder, Sehnen oder Muskeln nach langen Liegezeiten zu stabilisieren. 

„Die beste Qualität von Materialien und Verarbeitung ist hier besonders wichtig, denn unsere Kunden müssen ihre Schuhe den ganzen Tag tragen können, ohne dass sie zu schnell verschleißen. Außerdem sind sie höheren Belastungen ausgesetzt, weil sie die Füße in Form halten und nicht nur umhüllen müssen“, erklärt Jaume. Sachlich aber doch behutsam spricht er über die besonderen Aufgaben seines Berufes. „Ich schaffe es sicher nicht, mit meiner Arbeit den Menschen die Schmerzen zu nehmen, aber ich kann ihnen helfen, dass ihr Leben ein bisschen leichter wird. Meine Mission ist es erstens, dass sie sich überhaupt Schuhe anziehen können, zweitens, dass sie damit laufen können und drittens, dass die Deformation nicht zunimmt.“ 

Fehlende Nachfrage mit positivem Hintergrund

In früheren Jahren produzierte die Familie bis zu 20 Paare orthopädischer Schuhe im Monat, heute ist es nur noch ein Drittel. Die fehlende Nachfrage hat einen durchweg positiven Hintergrund. Früher, sagt Jaume, wurden 90 Prozent der orthopädischen Schuhe für Polio-Patienten angefertigt. Dank der wirksamen Impfstoffe verschwindet die tückische Kinderlähmung, und mit ihr die Leiden wie Gelenkschäden, Deformationen oder Skoliose. Die geringer werdenden Aufträge gleicht Jaume, wie auch schon sein Vater, mit Reparaturarbeiten aus. In den Regalen mit den zu erledigenden Aufträgen finden sich Handtaschen, exklusive Reitstiefel und vor allem Sportschuhe. Das Ausbessern von teuren Kletter- und Wanderschuhen macht das Gros der Arbeit aus. Bei aller Wegwerfmentalität ist doch in den höherpreisigen Kategorien der Erhalt des Schuhwerks wieder im Kommen. Natürlich gehört auch die immer wiederkehrende Erneuerung der orthopädischen Schuhe zum Programm. Die Maßanfertigungen kosten ab 500 Euro aufwärts und sollen so lange wie möglich halten. Ein passgenauer, gut eingelaufener Schuh ist manchmal die beste Medizin.

Orthopädische Schuhwerkstatt „Es Sabater“

C/. Ticià, 34C in Palma

Tel.: 971 204 136

www.essabater.es 

essabaters@gmail.com 

Christiane Sternberg

Fotos: Marcos Gittis

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