Zweiter Teil unserer Kurzgeschichte Wo werden wir uns wiedersehen?

Für diesen Abschied fehlte ihm jegliche Phantasie! Er wollte sie nicht aus seinem, aus ihrem Leben gehen lassen. Das unbarmherzige Gefühl der Endlichkeit berührte ihn unsanft und erinnerte ihn erbarmungslos daran, dass es Zeit war, Abschied zunehmen, dass sie gekommen war, diese Zeit, verlustbringend.

Und sind dann die Tränen getrocknet, findet er sich unerwartet wieder in dieser erinnerungsschweren Einsamkeit, aus der es für ihn kein Entrinnen mehr geben wird. Quälend langsam beginnt ihn die Erkenntnis zu beunruhigen, mit ihr auch seine Zukunft verloren zu haben. Die Gewissheit um das eigene Ende tritt jetzt näher und näher an ihn heran, unterwandert sein Bewusstsein und wird zu seinem täglichen Begleiter. Er weiß, nach diesem erlittenen Verlust, dass auch er gehen muss, eines Tages, und möchte doch Bleiben, ewiglich. Welch ein phantastischer Widerspruch zum Erlebten! Hat sie ihm nicht auf ihrem Sterbebett, auf der Intensivstation von Manacor, bedeutet, wie es geht? War nicht sie es, die ihrem hilflosen und verzagten Mann die Hand streichelte, weil sie intubiert war und nicht sprechen konnte. Sollte für ihn in dieser Geste, in diesem letzten Lächeln, das ihn bereits aus weiter Ferne erreichte, nicht Trost für ihr Gehen liegen? Was wusste sie schon jetzt, was war ihr bereits verheißungsvolle Gewissheit? Glaubensmäßig gab es für sie nur Festgefügtes! Quälend verloren sie sich in ihrer brüchig werdenden Gegenwart. Sie trennte sich von ihrem Leben, im Vertrauen auf die höhere Macht, die sie nie geleugnet, nie in Frage gestellt hatte, wohl aber auch, weil sie diesen Abschied aus ihrem Glauben heraus verstanden und akzeptiert hatte. So muss es gewesen sein, nicht anders. Aber auf Grund welcher Perspektive? War es die dramatisch enge Bindung an die Schwester, die der Frühwaise aufopfernd Mutterersatz gewesen war, und die gerade erst vor zwei Wochen auf entsetzliche Weise zwischen Manacor und Porto Cristo verunglückt war? War es ihre einsame Entscheidung, dieses Band zwischen ihr und der Schwester über deren Tod hinaus nicht zerreißen zu lassen?

Wird die Erinnerung reichen?
Was spielte sich in ihrem Unterbewusstsein ab, welche Prioritäten wurden – für ihn nicht wahrnehmbar – von ihr gesetzt, möglicherweise? War sie schon so viel weiter als er, der aus ihrem Schicksal nichts lernen wollte, sie nur nicht hergeben, sondern diesen wertvollen Menschen behalten wollte. Für sich, um weiter Sein zu können? Was ist er denn noch wert, eines Tages, wenn ihm auch noch seine Würde abhanden kommt, nur weil sie gegangen war? Wie viel von ihm war sie wirklich? Wo musste er die Kraft suchen, die ihm aus ihrem Tod erwachsen sollte? Die Erinnerung an sie allein, kann es die sein, wird sie ausreichen, ihn aufrecht zu halten?

Stärke über den Tod hinaus
Es ist seltsam und wohl auch ein Zeichen von Schwäche, einer Toten die Verantwortung für sein Scheitern, für den möglichen, eigenen Untergang zuschieben zu wollen. Und ihn begann die Frage zu beschäftigen, wie stark können Menschen über ihren Tod hinaus noch sein, um auf Hinterbliebene einwirken und Schwächen ausgleichen zu können? Er gestand sich ein, ihre Verlässlichkeit schmerzlich zu vermissen. Wer war er noch, ohne sie, jetzt, so allein? Winken und lächelnd loslassen können, ist es das, was den Partner unsterblich macht, ihn so erinnerungsstark in seine Lebensmitte rückt, für immer bindend und damit unauslöschlich? Sie war aus ihrem Leben gegangen, still und gefasst, vielleicht auch bewusst. Sicher aber nicht unvorbereitet. Ihm schien, als sei dies ihre letzte Pflicht, die sie erfüllen wollte.

Sanfte Führung
Früh schon hatte sie, als heranwachsendes Kind noch, Pflicht als bedeutsamen Lebensinhalt kennengelernt und akzeptiert, eine sie für ihr ganzes Leben prägende Tugend. Ihr Leben als harte Schule zu begreifen und auch anzunehmen hat sie zu einem Menschen gemacht, der aus sich heraus zu den eigenen Stärken fand, und so alles Ruhende in sich nutzbar machen konnte. Obwohl schwach, war sie in dieser Beziehung die Stärkere! Sie führte ihn und machte auf ihre sanfte Art einen vorzeigbaren Menschen aus ihm. Sie, die sparsam mit ihren Träumen umging, verfügte über eine beeindruckende Ruhe und Klarheit. Gedanklich diszipliniert geriet ihr Kopf nie aus den Fugen. Immer war ihr das Wesentliche nah. Nie musste sie Umwege gehen, um an ihr Ziel zu gelangen. Die sie auszeichnende Wahrhaftigkeit und Gradlinigkeit waren für sie direkte Wegweiser. So fanden sie zueinander, weil er sie brauchte und sie ihn wollte.

Schicksalhafte Liebe
Beide gingen sie an diesem, für sie denkwürdigen Tag, ohne ihn als solchen überhaupt erkennen zu können, gemeinsam die Kaiserstraße zum Hauptbahnhof hinunter. Sie musste nach Offenbach, er nach Sprendlingen. Und sie waren einander nicht fremd. Mit jedem Blick mehr in ihr anmutiges und offenes Gesicht wurde es ihm zur Gewissheit, dass sie nicht von der Liebe verschont bleiben würden. Gefühle und Zuneigung ereilten sie beide wie des Schicksals Fügung. Dieses Zusammentreffen war Liebe und Sehnsucht aus einem Guss. Und ihre schönen, sanft blickenden braunen Augen erlaubten ihm schon früh einen tiefen Blick in ihr freundliches Wesen. Er genoss es, wie sie begeistert von ihrem aktuellen Buch „Angelique“, das sie gerade las, berichtete und ihm, entwaffnend ehrlich, beinahe keusch, ihre erotischen Ambitionen offenbarte.

Sie kam nicht zu ihm zurück…
Der herbeigerufene deutsche Arzt hatte sich aus unerfindlichen Gründen nach Stabilisierung ihres Kreislaufs wieder entfernt. Und im weiten Campo von Sos Fulles heulten die Sirenen der Policia Municipal und des Rettungswagens vom Hospital de Manacor ihre Tragödie in die überschaubare Inselwelt. Er hatte sie aus seinen Armen zurück auf ihr Bett gelegt und ihre leicht ergrauten, nach der Chemo wieder nachgewachsenen Haare geordnet und sie warm zugedeckt. Seine linke Hand streichelte unablässig ihr blasses, verschlossenes Gesicht, in der Hoffnung, sie würde seine flehentliche Bitte vernehmen und ihre Augen wieder öffnen. Aber sie kam nicht zu ihm zurück. Die sie einhüllende, quälende Stille wurde jäh durch lärmendes Sirenengeheul vor ihrer Finca zerrissen: Ausgerüstet mit mobilem Sauerstoffgerät stürmten zwei Beamte der Policia Municipal die Finca und verdrängten ihn unsensibel von der Seite seiner Frau. Die Notärztin habe sie nach ihrer Abfahrt vom Hospital über Funk angewiesen die Señora bis zu ihrem Eintreffen sofort mit Sauerstoff zu versorgen. Sie seien, so betonten sie kurz und knapp, dafür ausgebildet!

Wie betäubt fand er sich in einem der vier Korbsessel wieder, die unter dem Schatten spendenden Finca-Vordach standen. Alles in ihm war auf der Flucht, aber es gab für ihn kein „wohin“. Panik kam auf in ihm, als erneut ein weiteres Polizeifahrzeug, das den Rettungswagen lotste, mit Ohren betäubendem Sirenengeheul auf ihn zugerast kam und ihm auf diese Weise das Ausmaß der sie beide ereilten Tragödie ins schier Unerträgliche potenzierte. So, als gäbe es ihn gar nicht, besetzte das vierköpfige Rettungsteam die Finca. Für ihn gab es keinen Platz, von dem aus er die Rettungsbemühungen um seine Frau hätte verfolgen dürfen. Rigoros wurde ihm bedeutet, die Arbeit des Ärzteteams nicht unnötig zu stören. Bilder aus unbeschwerter Vergangenheit rangen in seinem wirren Kopf mit den Bildern dieser ängstigenden Gegenwart, die ihn niedergezwungen hatte. Seine Seele wagte sich in ihrer Verzweiflung zurück in die schönen Momente ihres gemeinsamen Lebens. Der Versuch jedoch, ihr Leben an diese glückliche Zeit rettend anzubinden, missriet zu einem mit unsäglicher Angst belasteten Erinnern!
Ralph D. Wienrich

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